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Marienthal reloaded: MAGMA – Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal

AKTIV: Die zweite Republik ist heuer 75 Jahre alt geworden. Wir stecken – ausgelöst durch die COVID-Pandemie – mitten in der größten Krise seit ihrem Bestehen. Wie bewerten Sie die Folgewirkungen dieser sehr tiefen Krise auf Arbeitslosigkeit, auf Langzeitbeschäftigungslosigkeit und in Folge auf die Sockelarbeitslosigkeit?

Sven Hergovich: Die Krise ist für alle, so auch für uns im AMS, für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine extrem große Herausforderung. Wir waren im März und April mit einem massiven Ansturm an zusätzlichen Kund*innen konfrontiert und mussten gleichzeitig alle Angebote – wir haben ja auch immer sehr stark auf die persönliche Beratung gesetzt – auf den online und telefonischen Kanal umstellen. Ich bin sehr stolz auf Mitarbeiter und auch sehr dankbar, wie gut sie das bewältigt haben. Es ist uns gelungen – und das möchte ich schon betonen –, dass alle pünktlich das Arbeitslosengeld erhalten haben und wir auch die Vertausendfachung der Kurzarbeitsanträge binnen sehr, sehr kurzer Zeit ganz gut administrieren konnten. Das klingt jetzt alles so selbstverständlich, aber es gab Länder, wo das nicht funktioniert hat. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn die mehr als 200.000 Niederöstereicher*innen, die in Kurzarbeit waren, zusätzlich arbeitslos geworden wären, und wenn’s nicht unktioniert hätte, dass die zehntausenden zusätzlichen Arbeitslosen pünktlich ihr Geld bekommen. Ich sage das, weil mir das wichtig ist, die Leistung meiner Mitarbeiter*innen entsprechend zu würdigen, die da einen extrem wichtigen Job gemacht haben.
Was die Langzeitbeschäftigungslosen betrifft, gehe ich davon aus, dass wir einen massiven Anstieg der Langzeitbeschäftigungslosigkeit haben werden. Das haben wir auch infolge der letzten Krise gesehen. In Wahrheit steigt die Langzeitarbeitslosigkeit, die strukturelle Arbeitslosigkeit, wenn ich sie über die Konjunkturzyklen bereinigt betrachte, seit den 1980er Jahren beständig an. Ich glaube, dass wir diesen Anstieg nicht länger akzeptieren dürfen, und dass es Zeit ist, auch neue Wege in der Bekämpfung der Langzeitbeschäftigungslosigkeit zu gehen. Weil es kaum was Schlimmeres gibt, als langzeitarbeitslos zu sein. Das macht ja was mit Menschen, und das dürfen wir nicht vergessen. Ich weiß, es macht einen Riesenunterschied, ob jemand Arbeit hat oder nicht. Am Papier, in der Statistik mag das nur eine Zahl sein, aber für die Betroffenen heißt das am Ende des Tages: Ich hab‘ meinen eigenen Job, ich verdien‘ wieder mein eigenes Geld, ich hab‘ Respekt und Anerkennung in dieser Gesellschaft. Und das halte ich für ganz, ganz entscheidend.

AKTIV: Was ist die Intention von MAGMA? Hat das mit Ihren Ausführungen von soeben zu tun?

Hergovich: Die Grundintention, die Grundidee ist, dass es sinnvoller ist, Arbeit zu finanzieren als Langzeitarbeitslosigkeit. Ich bin für evidenzbasierte Arbeitsmarktpolitik: Wir werden seriös abklären: Ist es tatsächlich möglich, billiger und effizienter, Arbeit zu finanzieren als Langzeitarbeitslosigkeit? Was bedeutet das für die Betroffenen? Wie wirkt sich das aus? Was bedeutet das für die Gesellschaft? Und ist es möglich, Langzeitarbeitslosigkeit abzuschaffen? Das sind Ziel und Intention des Projektes. Meine These ist, dass es Menschen – und uns als Gesellschaft insgesamt – besser geht, wenn sie arbeiten, als wenn sie langzeitarbeitslos sind. Aber im Moment sind das nur Thesen, die wir zu belegen versuchen.

AKTIV: Was sollen die MAGMA-Projektteilnehmer*innen konkret arbeiten?

Hergovich: Das wird ganz unterschiedlich sein, weil die Teilnehmer*innen ja auch unterschiedlich sind. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, wirklich jedem und jeder einen individuell zugeschnittenen Arbeitsmarkteinstieg zu  ermöglichen. Wir schauen uns an, was sind die jeweiligen Kompetenzen, die Fähigkeiten, die Interessen der jeweiligen Teilnehmer*innen und erarbeiten dann abgestimmt darauf einen Perspektivenplan zum Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt und suchen für jeden bzw. jede einen passenden Arbeitsplatz.
 

Ein Mann, Mitte 30, mit sehr kurz geschnittenen Haaren, blauem Anzug und rot-blau-gestreifter Krawatte in einer Gesprächssituation.
Sven Hergovich, Leiter des AMS Niederösterreich

AKTIV: Wenn man MAGMA mit etablierten Fördermaßnahmen des AMS vergleicht, wo liegen die Unterschiede – zum Beispiel im Vergleich zu einer verlängerten und großzügig bemessenen Eingliederungsbeihilfe?

Hergovich: Der wichtigste Unterschied ist, dass sich das Projekt an 100 Prozent der Zielgruppe richtet. Bei unseren etablierten Maßnahmen haben wir eben eine Maßnahme für einen bestimmten Teil einer Zielgruppe, und hier sagen wir: Ohne Ausnahme, jeder, der langzeitarbeitslos ist in der Gemeinde, und nicht nur jeder, der aktuell langzeitarbeitslos ist, sondern auch jeder, der in der Zukunft langzeitarbeitslos werden wird – das macht’s ja noch viel herausfordernder und komplexer –, alle bekommen ein Angebot. Das ist der ganz große Unterschied, und das ist auch weltweit einzigartig. Wir sind weltweit die ersten, die das ausprobieren und sagen, wir garantieren wirklich jedem und jeder Langzeitarbeitslosen einen Arbeitsplatz. Darum gibt’s dafür auch viel internationale Aufmerksamkeit.
Und daneben setzen wir auf eine Kombination an Maßnahmen von einer sondervereinbarten Eingliederungsbeihilfe über ein Gemeinnütziges Beschäftigungsprojekt bis hin zu Elementen wie einer intensiven Vorbereitungsmaßnahme, die auf eine sehr, sehr intensive Beratung und Betreuung setzt. Ich glaube, dass wir all die arbeitsmarktpolitischen Instrumente, die wir haben, brauchen. Ich bekenn‘ mich ja auch sehr bewusst zu Beschäftigungsprojekten, weil ich glaube, dass sie arbeitsmarktpolitisch sehr wichtig sind. Und diese Kombination der Elemente halte ich schon auch für entscheidend, weil ich eben tatsächlich glaub‘, dass wir all diese Elemente brauchen.

AKTIV: Vom Konzept her erinnert MAGMA an das deutsche Teilhabechancengesetz, mit dem Hartz-IV-Bezieher*innen adressiert werden und mittlerweile 42.000 Personen in geförderte Beschäftigung gekommen sind. Zielgröße sind bis zu 150.000 Personen deutschlandweit. Wurden von diesem deutschen Teilhabechancengesetz Anleihen genommen für MAGMA?

Hergovich: Hmmmh … ich befürworte das deutsche Teilhabechancengesetz, weil ich glaub‘, dass das ein wichtiger arbeitsmarktpolitischer Impuls für Deutschland war, aber uns unterscheiden schon zwei Punkte ganz wesentlich von der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Das erste ist – und das ist wichtig – wir setzen zu 100% auf kollektivvertraglich entlohnte Arbeitsplätze. Das halte ich für einen ganz entscheidenden Unterschied. Arbeit muss auch ordentlich bezahlt sein. Dazu stehen wir, und das ist ein ganz wesentlicher Unterschied zur deutschen Arbeitsmarktpolitik. Und das zweite ist – und das macht unser Projekt doch komplexer –, dass wir tatsächlich für 100 Prozent der Langzeitarbeitslosen ein Angebot schaffen. Wir picken uns nicht einzelne heraus, sondern sagen: Die Herausforderung ist, wir wollen’s für jede/n Einzelne/n schaffen.

AKTIV: Welche Ergebnisse erwarten Sie von MAGMA?

Hergovich: Die Erwartung oder die Hoffnung ist, dass wir die These belegen können, dass es erstens nicht mehr kostet, Arbeit zu schaffen als Langzeitarbeitslosigkeit zu finanzieren, und dass es zweitens überhaupt möglich ist. Also das ist ja die große Frage: Gelingt es uns tatsächlich, Langzeitarbeitslosigkeit abzuschaffen? Das ist weltweit einzigartig und macht das Projekt MAGMA zu einem ehrgeizigen Vorhaben. Ob das gelingt, wird uns die wissenschaftliche Evaluierung zeigen. Und wir überprüfen in Wahrheit die Umkehrung der Marienthal-Studie. Damals hat man gezeigt, wie schlecht es Menschen geht, wenn sie aus Arbeit in Arbeitslosigkeit abrutschen. Jetzt wollen wir zeigen, welche positiven Folgen es für die Betroffenen, aber auch die Gesellschaft hat. Wenn Sie nur an die gesundheitlichen Auswirkungen, wenn Sie an den gesellschaftlichen Zusammenhalt, an den sozialen Status, die individuellen Lebensbedingungen denken: Welche positiven Auswirkungen hat es, wenn man von Langzeitarbeitslosigkeit wieder in Arbeit kommt?

Drei Männer in Anzügen vor einem Schild des AMS Niederösterreich
Soziologieprofessor Jörg Flecker, AMS NÖ-Chef Sven Hergovich und Lukas Lehner vom Department of Social Policy and Intervention der Universität Oxford bei der öffentlichen Präsentation von MAGMA - Foto: photonews.at/Georges Schneider

AKTIV: Sie stellen auf Marienthal ab. Welchen Bezug gibt’s zur Marienthal-Studie? Marienthal als Studienort ist weltberühmt, in Österreich weiß kaum jemand, wo das liegt. War es auch Intention, das Projekt in Gramatneusiedl zu machen – hat das einen Bezug zur Studie selbst?

Hergovich: Der Grund, wieso wir das in Gramatneusiedl machen, ist ein ganz einfacher: Die Struktur der Langzeitarbeitslosen in Gramatneusiedl entspricht in etwa dem österreichischen Schnitt. Wir wollten gezielt eine Gemeinde wählen, wo wir sagen, wir bekommen übertragbare Ergebnisse. Wir wollten es uns nicht leichter machen, indem wir einen Ausreißer wählen, wo’s sozusagen besonders günstige Strukturen gibt, sondern gezielt sagen: Dort entspricht die Struktur dem Durchschnitt – und uns das dort anschauen. Dass die historische Arbeiter*innen-Siedlung Marienthal ein Teil der Gemeinde ist, ist ein angenehmer Nebeneffekt, weil wir sozusagen die Umkehrung der damaligen Studie versuchen. Damals hat man bewiesen, das Abrutschen von Arbeit in Arbeitslosigkeit hat negative Folgen für die einzelnen Personen und die Gesellschaft. Jetzt wollen wir wissen, wie sich das Umgekehrte, das Schaffen von Arbeitsplätzen, das Finden von Arbeit aus Langzeitarbeitslosigkeit heraus, auswirkt.

AKTIV: Es ist eine dreiteilige Evaluierung von MAGMA vorgesehen. Warum dreiteilig?

Hergovich: Weil wir uns unterschiedliche Aspekte anschauen wollen. Der erste Teil, die soziologische Studie, ist eben tatsächlich die Umkehrung der damaligen Studie, wo man sich anschaut: Wie geht’s den Betroffenen, wenn sie aus Langzeitarbeitslosigkeit in Arbeit kommen? Die These ist, dass sich das auf das individuelle Wohlbefinden sehr, sehr positiv auswirkt – aber das werden die Soziolog*innen der Universität Wien am Nachfolgeinstitut des damaligen Instituts untersuchen. Die zweite Studie ist eine Studie, wo die Statistiker*innen der Universität Oxford eine künstliche Vergleichsgemeinde bilden, um zu schauen, wie die ökonomischen Effekte in der Gemeinde sind. Sinkt zum Beispiel Langzeitarbeitslosigkeit in der Gemeinde mit Intervention stärker als in Gemeinden ohne Intervention? Das heißt, hier können wir die ökonomischen Effekte mit einer Methode sauber evaluieren, die die Wirtlitik um eine sogenannte Jobgarantie gibt. Es gibt viele Experimente, wo das Grundeinkommen getestet wurde, es gab noch keines weltweit, wo die Jobgarantie getestet worden ist. Und sie haben gesagt, bei so einer intensiven Diskussion, das weltweit erste Projekt wirklich sauber und unabhängig wissenschaftlich evaluieren zu können, ist auch für die Universität Oxford sehr interessant.

AKTIV: Sie erwarten sich auch, wenn ich das richtig heraushöre, dass das Projekt übertragbar sein wird und skalierbar auf andere Kommunen, auf andere Bundesländer, vielleicht überhaupt in andere Staaten übertragen werden kann. Sehen Sie zum Beispiel, wenn man den Wien-Bezug herstellt, eine Übertragbarkeit auf Wien gegeben?

Hergovich: Ich bin für seriöse und evidenzbasierte Arbeitsmarktpolitik. Das heißt, man muss zuerst einmal schauen, was sind überhaupt die Ergebnisse, bevor man darüber reden kann. Ich glaub‘, das wäre unseriös, wenn ich beginne, Ergebnisse, die noch gar nicht vorliegen, zu interpretieren. Das mach‘ ich auch nicht, sondern ich bin tatsächlich sehr, sehr gespannt, weil es ja viele Fragen sind, denen wir uns neu und zum ersten Mal widmen. Ich glaube, es wird Ergebnisse bringen, die uns in der Arbeitsmarktpolitik insgesamt weiterbringen, aber wie die ausschauen, wissen wir eben nicht – das macht’s ja so spannend.

AKTIV: Herzlichen Dank für das Interview!

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