arbeitplus wien
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„Es ist eine Vielfalt da, die es vor 20 Jahren nicht gegeben hat.“

arbeit plus Wien: Zu Beginn eine Frage, die sich vor allem an die Gründer*innen richtet: Wie ist es dazu gekommen, im Herbst 2001 einen Dachverband zu gründen – den DSE, Dachverband der sozialökonomischen Einrichtungen Wien? Was waren die Beweggründe, was war die Intention dahinter?

R. Wagner: Die damalige Situation war ein Ergebnis einer experimentellen Arbeitsmarktpolitik – das war schon eine Innovation in Europa! Im Vorfeld der Gründung haben sich Projektleiter*innen und Sozialarbeiter*innen aus den Projekten regelmäßig getroffen, um sich über Rahmenbedingungen. Projektführung und die Zusammenarbeit mit Fördergeber*innen auszutauschen. Daraus ist der Wunsch entstanden, eine Lobbying-Gruppe in Form eines Vereins zu konstituieren, nicht nur um für die Träger zu lobbyieren, sondern immer auch, um Sprachrohr für die Klient*innen zu sein, die in den Projekten unterstützt werden. In dieser Dichotomie sind wir heute noch.

M. Vollmann: In der Schottenfeldgasse haben die Beratungs- und Betreuungseinrichtungen gemeinsam mit den Beschäftigungsprojekten an den Vereinsstatuten gearbeitet. Das ABZ Meidling, wie wir damals geheißen haben, war ja zunächst im Bundesdachverband (BDV Austria) Mitglied, denn es hat noch keinen Wiener Dachverband gegeben. Wir haben uns gedacht, wir brauchen eine Wiener Vernetzung, die uns gemeinsam im Bundesdachverband vertritt. Darum habe ich mich mit Eugen Bierling-Wagner engagiert emeinsam mit den Sozialökonomischen Betrieben den DSE zu gründen.

Die Gesprächsteilnehmer*innen - 3 Frauen und drei Männer - geben die Daumen nach oben. Vor ihnen steht eine doppelstöckige Geburtstagstorte mit arbeit plus Wien-Logo und 20er-Kerze.
v.l.: Tanja Wehsely, Rudolf P. Wagner, Andreas Thienel, Manuela Vollmann, Swantje Meyer-Lange und Christoph Parak

apW: Werfen wir einen Blick auf die Aufgaben des Dachverbands und seine Entwicklung. Welche Aufgaben hatte der DSE zu Beginn, welche hat arbeit plus Wien heute? Lassen sich Etappen in der Entwicklung des Wiener Dachverbands festmachen?

R. Wagner: Die Geburt des DSE war dann doch eine, die ein bisschen Sauerstoffzufuhr gebraucht hat. Die vorrangigste Aufgabe von Heimo Rampetsreiter als erstem Vorsitzenden war die Sicherung der Finanzierung: Gibt es eine Chance, dass über das AMS eine Finanzierung in den Dachverband einfließen kann oder nicht? Und das ist wirklich die Leistung von Heimo Rampetsreiter und seinem Team, dass das gelungen ist. Es hat sicher zwei, drei, vier Jahre in Anspruch genommen, bis der Verband auf einer vernünftigen Finanzierung gestanden ist. Das war quasi die erste Epoche. Es war in der Anfangszeit nicht immer einfach, eine Gesprächsbasis mit den Fördergeber*innen zu finden. Wir waren natürlich ein lästiger Dachverband, gerade zu Beginn, weil wir viele Dinge in Frage gestellt haben. Und das wurde manchmal auch als Angriff ausgelegt. Später, mit Präsident Walter Wojcik und Geschäftsführer Christoph Parak, ist es gelungen, von einer konfrontativen in eine kooperative Situation zu kommen. Das ist die zweite Phase.

A. Thienel: Wir sind aus einer sehr konfrontativen Situation in eine wechselseitig anerkennende und unterstützende Zusammenarbeit gewachsen. Und auch intern hat sich viel getan: Am Anfang war der DSE ein loser Zusammenschluss der Trägerorganisationen, und dieses Zusammenwachsen durch das Bearbeiten gemeinsamer Themen hat uns stärker gemacht. Auch die Serviceorientierung des Dachverbands in Richtung der Trägerorganisationen und Projekte hat sich verbessert. Und zu den Aufgaben heute: Da hat sich vieles verändert, im Sinn von öffentlichem Auftritt und gemeinsam Positionen zu vertreten.

S. Meyer-Lange: Auch beim Selbstbewusstsein – heute treten wir als arbeit plus Wien ganz anders auf als damals als DSE. Mit der Einführung und dann Aufwertung einer Geschäftsführung hat sich sehr viel verändert. Und die Übersiedlung vom wenig einladenden Büro am Parhamerplatz in die Taborstraße war ein Wendepunkt.

Ein Mann mit kleiner eckiger Brille und zurückgekämmtem, hellen Haar
Rudolf P. Wagner ist GF der pro mente Wien und Gründungsmitglied des DSE-Wien, heute arbeit plus Wien, und war viele Jahre Vorstandsmitglied.
Eine Frau mit Brille udn blonden Haaren spricht mit ausdrucksstarken Bewegungen.
Manuela Vollmann ist Gründerin und GFin von ABZ*AUSTRIA, Gründerin des DSE-Wien und langjährige Vorsitzende von arbeit plus Österreich.

apW: Vor 20, 30 Jahren wurden etliche arbeitsmarktpolitische Projekte neu gegründet, auch im Sinne, die experimentelle Arbeitsmarktpolitik richtig ins Leben zu führen. Neue Trägerorganisationen haben sich etabliert. Wäre das heute auch noch so möglich?

A. Thienel: In der Form glaube ich nicht. Die Standards, die ganze Finanzkraft, was da zur Entwicklung und Durchführung neuer Projekte notwendig ist, ist kaum mehr schaffbar für kleine Träger. Deshalb geht’s sehr stark in Richtung größere Träger, die hier mehr Möglichkeiten haben. Ich finde, das ist schon ein Verlust. Und für mich geht’s jetzt darum, diese Innovationskraft kleiner, engagierter Organisationen, die sich vielleicht erst gründen wollen, weiter zu unterstützen. Ich glaube, dass das damals, zum Beginn experimenteller Arbeitsmarktpolitik, noch ein Stück leichter war.

M. Vollmann: In den letzten 20 Jahren ist die Welt neoliberaler geworden. Wir sehen deshalb eher dieses Entrepreneurship, die wirtschaftsorientiert als Startups mit sozialem Gedanken arbeiten. Nicht allen ist gelungen Fuß zu fassen. arbeit plus Österreich hat eine eigene Plattform gegründet, damit diese Startups sich auch mit uns vernetzen können, obwohl sie nicht gemeinnützig sind. Das ist ein Feld, wo man internationaler denken muss: ESF-Gelder, EU-ReAct etc., wo wir als Netzwerk die Jungen unterstützen, damit sie es schaffen können. Ich habe einige erlebt, die dann alles hingeschmissen haben.

T. Wehsely: Aber die Szene von damals, mit den etablierten und den experimentellen Projekten, ist doch eine ähnliche wie jetzt? Unter anderen Voraussetzungen natürlich. Da gab es noch keine etablierten Arbeitsmarkt-Unternehmen, wie wir das jetzt sind, nur eine staatliche Arbeitsmarktverwaltung, später das AMS. Und jetzt denken eben wir darüber nach, wie inkludiert man private Initiativen? Es ist eine Vielfalt da, die es vor 20 Jahren nicht gegeben hat. Es wäre vielleicht nicht mehr genauso möglich wie damals, aber heute sind ja auch andere Dinge relevant als damals.

Eine Farue mit schulterlangem blonden Haar und einer auffälligen Halskette
Swantje Meyer-Lange leitet den Frauen-SÖB VISITAS des Wiener Roten Kreuzes und ist seit 2018 Vorsitzende von arbeit plus Wien.
Ein Mann mit sehr schütteren Haar und grauem Dreitagesbart
Andreas Thienel leitet für die Caritas Wien den Fachbereich Arbeit und Chance und ist seit 20 Jahren bei arbeit plus Wien engagiert, z.B. im Vorstand.

apW: Wenn ich jetzt an Projekte von damals denke, wie das ABZ Meidling, das vor 30 Jahren angefangen hat, und was dann daraus geworden ist: Wäre so etwas heute noch möglich?

A. Thienel: Der Würfel, den ich ja selbst gegründet habe, wäre heute nicht mehr möglich. Wenn ich jetzt als 25-Jähriger beginnen und sagen würde, ich hab eine Idee, und wir dann 1983 in einer Wohnung das Beratungscafé für arbeitslose Menschen und in Folge 1990 den ersten Wiener SÖB gegründet haben.

M. Vollmann: Es ist möglich, aber es ist sehr schwierig. Aber ich denke, der Platz müsste da sein. Neben den technischen Innovationen brauchen wir auch soziale Innovation, und dabei sollten wir auch junge und kleinere Initiativen unterstützen.

T. Wehsely: Es wäre heute nicht mehr möglich wie damals. Das Vergabewesen, die Calls in der Arbeitsmarktpolitik sind oft nur scheinbar innovationsgetrieben und sie werden auch „Schönschreiben“ genannt. Es wirkt durchaus know-how-vernichtend. Es ist nicht, wie gewünscht, effizient und effektiv – allein durch die Ausschreibungen, die Art, wie du dich jedes Jahr bewerben musst, selbst bei bewährten Projekten. Wir brauchen einen sinnvollen Maßnahmenmix aus Bewährtem und Raum für Experimente. Derzeit wird alles über einen Kamm geschoren, die Bürokratie beschäftigt alle über Gebühr. Das können sich eben oft nur Große oder Etablierte leisten.

S. Meyer-Lange: Also, ich bin 2003 in die Wiener Szene eingestiegen. Damals hat es in Wien über 30 SÖB und BBE gegeben. Davon gibt es jetzt viele nicht mehr, andere sind gewachsen oder haben fusioniert. Es gab immer Bewegung.

Eine Frau mit schulterlangem, dunklen Haar
Tanja Wehsely kommt aus der Jugendarbeit und Wiener Kommunalpolitik und ist GFin der Volkshilfe Wien und Vorstandsmitglied von arbeit plus Wien.
Ein Mann im Anzug mit Brille und sehr kurzen grauen Haaren und eine Frau mit schulterlangen Haaren präsentieren eine zweistöckige Torte mit Logo, Wien-Silhouette und 20er-Kerze
Christoph Parak, GF von arbeit plus Wien, und Swantje Meyer-Lange, Vorstandsvorsitzende von arbeit plus Wien, mit der Geburtstagstorte

apW: Wenn man sich eine zentrale Aufgabenstellung der aktiven Arbeitsmarktpolitik anschaut, nämlich die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, und dem die Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit in den letzten 20 Jahren gegenüberstellt, könnte man sagen, die Politik ist gescheitert. Denn so wie die Langzeitarbeitslosigkeit angestiegen ist, ist das keine Erfolgsgeschichte, oder?

R. Wagner: Vollkommenes Veto! Wir wissen nicht, was gewesen wäre, wenn wir die vielen Unterstützungsmaßnahmen nicht gesetzt hätten! Es gab nach der Finanzkrise mehr Langzeitarbeitslose als vorher, aber da hat ja die Finanz- und Wirtschaftspolitik einen höheren Impact als die Arbeitsmarktpolitik. Denn da ist ja noch die Stellenandrangs-Ziffer: vor der Krise hatten wir 1:8 oder 1:10. Also wenn zehn Leute um eine Stelle rittern, da darf ich keinem einzigen Arbeitslosen irgendwas unterstellen, weil das unfair ist. Die anderen neun können Olympiasieger*innen sein und kriegen den Job trotzdem nicht.

M. Vollmann: Aber man hätte gleich nach der Finanzkrise die Entscheidungen treffen können, wenn diese Wirtschaft Menschen in die Langzeitarbeitslosigkeit drängt, dann müssen wir gegensteuern mit einer bewussten und starken aktiven Arbeitsmarktpolitik.

T. Wehsely: Dafür bräuchte es aber Beschäftigungspolitik! Mit aktiver Arbeitsmarktpolitik kannst du ein bisschen den Arbeitsmarkt gestalten, aber wenn du Vollbeschäftigung willst und dafür keine Beschäftigungspolitik machst, kriegst du das auch nicht. Das kannst du nicht nur mit aktiver Arbeitsmarktpolitik stemmen.

A. Thienel: Der Arbeitsmarkt hat sich verändert: neue Anforderungen, Digitalisierung usw. und das Bildungssystem ist da nicht mitgekommen. Es braucht hier mehrere Ansätze: Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist letztlich das Pflaster auf der Wunde, aber wenn ich will, dass die Wunde gar nicht entsteht, muss das im Vorfeld über Bildungspolitik und Beschäftigungspolitik geschehen, da muss ich proaktiv sein. Da geht es auch um das Thema Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, was sehr stark über die Arbeit definiert ist. Es sind immer mehr Personen ausgegrenzt, wie schaffe ich diese Kurve? Da braucht’s entsprechende Angebote, die entwickelt werden müssen im Sinne von Beschäftigungsund Integrationspolitik.

apW: Zum Thema Frauen und Arbeitsmarkt: Wie sind die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu charakterisieren und zu bewerten?

M. Vollmann: Damals, als das ABZ*AUTRIA gestartet hat, haben wir versucht, Teilzeitstellen für Wiedereinsteiger*innen zu finden, damit Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung gut zu vereinbaren sind. Denn das Bewusstsein, dass Unternehmen Strukturen verändern müssen, damit Vereinbarkeit möglich ist, hat es so gut wie gar nicht gegeben. Mittlerweile klären wir Frauen darüber auf, dass Teilzeit auch eine Falle sein kann, in die sie oft geraten und die langfristig Altersarmut bedeuten kann. Es geht nur gemeinsam – wenn beide Partner sich die Kinderbetreuung teilen, wenn beide gleichermaßen reduzieren, wenn für die Vorgesetzten bei einem Mann um die 30 genauso wahrscheinlich ist, dass er in Karenz geht und danach Teilzeit arbeitet, wenn er Vater wird. Erst dann kann man von Gleichstellung am Arbeitsmarkt sprechen, dann macht es keinen Unterschied mehr, ob man einen Mann oder eine Frau einstellt, dann schließt sich der Gender Gap.

arbeit plus Wien: Vier zentrale Zielgruppen sind Dauerbrenner der aktiven Arbeitsmarktpolitik: Jugendliche und Ältere, Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen und Menschen ohne Ausbildung. Wo hat sich die Angebotslandschaft für diese Gruppen in den letzten 20 Jahren am stärksten verändert?

T. Wehsely: Mein Thema ist natürlich die Jugend. Und ich finde schon, dass man da viel weitergebracht hat. Meine Erfahrung als Jugendarbeiterin und dann in unterschiedlichen Positionen bei Trägern ist, das hat vor Minister Rudi Hundstorfer nie jemand ernst genommen. Für mich war der Rudi für die Jugendlichen das, was für die ganze Arbeitsmarktpolitik der Dallinger war.

M. Vollmann: Es hat zu lange geheißen, finde ich, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Österreich eh gering ist. Die offiziellen Zahlen haben dies ja auch bestätigt, dennoch war und ist klar: Gerade jungen Frauen wird es nicht leicht gemacht am Arbeitsmarkt. Sie werden häufig in stereotype Lehrberufe gedrängt, obwohl es Zukunftsberufe, wohl auch in der Pflege, aber auch im Umwelt- und Energiebereich gibt.

A. Thienel: Was Menschen mit Migrationshintergrund betrifft – da wurde auch reagiert auf Flüchtlingsbewegungen und die notwendige Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt. Da sind die BBE derzeit ein Stückchen experimentelle Arbeitsmarktpolitik, da wird viel ausprobiert: „Schauen wir uns das einmal ein Jahr an, bringt uns ein Konzept und dann schauen wir, ob sich das bewährt.“ Da tut sich schon was. Aber auch da haben eben wieder nur die großen Organisationen die Möglichkeit dazu. Da gibt es mittlerweile Projekte, wir haben zum Beispiel eines für türkischstämmige Frauen, die holen die Frauen dort ab, wo sie sind, und können auf spezifische Probleme besser eingehen. Also das hat schon auch Vorteile, dass die Angebote heute differenzierter sind.

apW: Wenden wir uns dem Jetzt und der Zukunft zu: Was sind aus heutiger Sicht die zentralen Herausforderungen am Arbeitsmarkt: jetzt und in zehn Jahren?

T. Wehsely: Ein zentrales Thema, über das wir auch schon oft geredet haben, ist Beschäftigungspolitik über Green Jobs und Kreislaufwirtschaft. Das ist ein großes, auf mindestens ein Jahrzehnt angelegtes nationales Anstrengungsprojekt. Das ist wie ein New Deal – der Green Deal! Und da ist es zu kurz gegriffen, einfach uns zu fragen „Ja, wo sind jetzt die Green Jobs? Was ist mit der Kreislaufwirtschaft? Was macht ihr jetzt in der Kreislaufwirtschaft?“

A. Thienel: Das ist wie bei der Energiewende – zum Umstieg gebe ich mir 20, 25, 30 Jahre, bis ich das schaffe. Wenn ich das Thema Beschäftigung, Zugang zu Arbeit für Alle ernst nehme, dass Beschäftigung ein wesentlicher Bestandteil gesellschaftlicher Integration ist, und was brauche ich dazu, dann kann ich nicht erwarten, dass das Problem von heute auf morgen gelöst wird, aber ich brauche ein umfassendes Bekenntnis dazu seitens der wesentlichen politischen Akteur*innen und Fördergeber*innen.

apW: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Fotos: arbeit plus Wien/Andy Urban

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