arbeitplus wien
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Die Balance zwischen Flexibilität und Stabilität finden

AKTIV: Jutta, start working ist das jüngste Mitglied von arbeit plus Wien. Ihr seid gleichzeitig auch ein SÖB für die jüngste Zielgruppe (Jugendliche bis 25) – was ist euer Angebot, was sind eure Ziele für diese Zielgruppe?

Jutta Emrich: Wir haben als sozialökonomischer Betrieb derzeit drei Buffetstandorte – dort kann man  sich sein - den ganzen Tag laufend frisch gemachtes – Weckerl, Kaffee, Tee, kalte Getränke oder Kuchen kaufen. Wir legen Wert auf Bioqualität und immer frische Produktion. Dann haben wir noch die Holzwerkstatt, einen Tischlereibetrieb im 10. Bezirk. Wir arbeiten auch mit gemeinnütziger Arbeitskräfteüberlassung.  Unsere Jugendlichen sind zwischen 18 und 24 Jahre alt, und ich glaube, was uns bei dieser Zielgruppe so erfolgreich macht, ist die begleitende Betreuung: Sie sind bis zu 10 Monate bei uns im Dienstvertrag, es ist aber auch möglich, zu verlängern und maximal 22 Monate bei uns zu bleiben. Unsere Trainer*innen und Arbeitsanleiter*innen sind immer für sie da. Ob es jetzt um eine neue Wohnung geht, den Asylbescheid oder Schuldenthematik.. Wir sind teilweise auch ein bisschen ein Elternersatz, viele sind unbegleitet oder haben einfach keine Familie, die sie im Hintergrund unterstützt. Immer zwischen Strenge und Nachsichtigkeit – sie brauchen  eine Chance, zwei Chancen, vier Chancen, bis dann wirklich „der Knopf aufgeht“.

AKTIV: Margarete, du warst bis vor ein paar Wochen Geschäftsführerin von sprungbrett für Mädchen – ein Gründungsmitglied von arbeit plus Wien und seit 35 Jahren für die Mädchen in Wien da. Was siehst du als Meilensteine deiner Arbeit im sprungbrett?

Margarete Bican: Worauf ich sehr stolz bin, ist, wie sich das sprungbrett insgesamt entwickelt hat. Als ich die  Geschäftsführung übernommen habe, waren wir 15 und jetzt sind wir knapp 70 Mitarbeiterinnen – wir haben unser gesamtes Portfolio sehr erweitert. Angefangen haben wir als Beratungsstelle für junge Frauen, hauptsächlich zum Thema nicht traditionelle Berufe. Handwerklich-technische Berufe sind nach wie vor ein wichtiger Teil, aber wir betreuen natürlich auch junge Frauen, die Friseurin werden möchten. Oder etwas ganz anderes. Ein Ausbildungs-Fit-Projekt, auf das ich ganz besonders stolz bin, das wir gemeinsam mit dem waff und der Stadt Wien auf die Füße gestellt haben, nennt sich Basis, und ist für junge Frauen, die ganz weit weg sind vom Arbeitsmarkt. Für die, die wirklich einfach nur mal vorbei schauen wollen, ein kleines Kind haben oder grad schwanger sind, die wirklich eine ganz niederschwellige Betreuung brauchen. Und da kann man auch ohne Terminvergabe hinkommen, man kann auch einfach nur vorbeischauen und einen Tee trinken, und natürlich gute Beratung bekommen oder an einem Workshop teilnehmen. Ziel dieses Projektes ist, dass die jungen Frauen wieder Anschluss finden und dann zum Beispiel in ein sogenanntes Vormodul von AusbildungsFiT gehen oder sich beim AMS melden und vielleicht in eine ÜBA gehen oder eine Lehrstelle finden.

AKTIV: Was hat sich in deiner Zeit im sprungbrett gesellschaftlich verändert? Mit welchen Problemen sind die Mädchen in den 90ern gekommen, mit welchen heute?

MB: Was leider gleich geblieben ist: Mädchen schöpfen nicht aus dem Vollen, was ihre beruflichen Ambitionen anbelangt. Und sie werden nach wie vor für die Care-Arbeit wesentlich stärker herangezogen als ihre männlichen Geschwister. Als ich im sprungbrett angefangen habe, haben 70% der jungen Frauen nur drei Lehrberufe gewählt. Heute sind es immerhin 10 Lehrberufe… Was sich sehr positiv verändert hat, sind die Unternehmen! Sehr viele gehen aktiv auf die jungen Frauen zu, wissen, dass sie etwas im Unternehmen verändern müssen, wenn sie Mädchen und junge Frauen ansprechen und halten wollen.

AKTIV: Ist es leichter geworden, die Mädchen zu überzeugen, auch z.B. einen technischen Beruf in Betracht zu ziehen?

MB: Es ist auf jeden Fall leichter, als es in den 90er Jahren gewesen ist. Aber gerade durch die Pandemie habe ich den Eindruck, dass viele Jugendliche – das trifft ja auf Burschen und Mädchen zu – eher wieder traditioneller wählen. Bei unserem youngFiT-Projekt ist es in den letzten zwei Jahren zum Teil sehr schwierig geworden, die jungen Frauen zu motivieren, sich einen technischen Beruf anzuschauen. Da spielt auch die Schule eine große Rolle, weil es wegen Corona keine Berufsorientierung gab…

AKTIV: start working hat einen handwerklichen und einen gastronomischen Arbeitsbereich – wie sieht es da mit den Geschlechterverhältnissen aus?

JE: 60% der Transitarbeitskräfte im Gastronomiebereich sind weiblich, in der Holzwerkstatt sind hauptsächlich junge Männer. Aber wir geben ihnen die Möglichkeit, bei Interesse zu wechseln. Eine junge Frau, die derzeit in der Holzwerkstatt ist, war zuerst im Buffet – jetzt ist sie schon einige Zeit handwerklich aktiv und bewährt sich. Gesamt gesehen beschäftigen wir jedoch mehr junge Männer als Frauen.

Jutta Emrich, Leiterin von Start Working
Margarete Bican, ehem. Geschäftsführerin von sprungbrett für Mädchen

AKTIV: Seit 2020 wurde vieles auf den Kopf gestellt – wie hat sich das auf eure Jugendlichen ausgewirkt?

JE: Die Betreuungszeit hat sich intensiviert. Ganz viele Jugendliche haben Ängste entwickelt oder vorhandene Probleme sind wieder hochgekommen. Es gab diejenigen, die trotz allem Party gemacht haben, und es gab diejenigen, die trauten sich nicht mehr raus. Es war viel mehr sozialpädagogische Betreuung nötig, um Ängste zu nehmen und den Kontakt zu halten.

MB: Bei AusbildungsFiT konnten die Mädchen eine Zeitlang auch nur online teilnehmen, analog zur Schule. Persönliche Beratungsgespräche mussten wir teilweise aussetzen, gerade im ersten Lockdown. Wir haben ganz viel telefonisch gemacht, das ist gut gegangen. Aber die Auswirkungen, die spüren wir schon ganz deutlich. Die psychische Belastung der Jugendlichen durch diese Pandemie ist enorm. Ich finde, dass man da von der Politik her viel zu wenig und viel zu spät darauf reagiert hat – wir haben das von Anfang an gesagt. Und wir merken aufgrund der geschlossenen Schulen, dass das Thema Berufsorientierung nicht oder wenig gegriffen hat, dass viele einfach ihre Struktur verloren haben. Es wird dauern, bis sich das wieder normalisieren kann. Für junge Menschen ist noch einmal viel dramatischer, wenn sie keine Ahnung haben, wie ihre Zukunft überhaupt ausschauen kann. Da kann man nicht wirklich ein rosiges Bild zeichnen, auch wenn jetzt die Arbeitslosigkeit wieder sinkt. Diejenigen, die schon verloren gegangen sind, wieder zurück zu gewinnen, ist eine Aufgabe, die uns noch lang begleiten wird.

AKTIV: Coronabedingt waren die letzten Jahre ein ständiges Improvisieren: Wie sehr ist es auch unabhängig davon Teil eurer Arbeit, möglichst flexibel auf Jugendliche einzugehen und schnell neue Lösungen zu finden?

JE:  wir haben mit der gemeinnützigen Überlassung ein flexibles Instrument, um Jugendliche im ersten Arbeitsmarkt „ schuppern“ zu lassen. Merkt man nach einiger Zeit, es geht nicht, kommt die Person wieder zu uns zurück, wird aufgefangen, kann sich neu orientieren.. Ob in der Überlassung, oder bei der Arbeit in einem unserer Teilbetriebe, wir müssen immer das richtige Maß erwischen zwischen Strenge und „Ok, du kriegst noch eine Chance“.  Manche Jugendliche brauchen mehr Zeit und  mehrere Chancen, um herauszufinden in welche Richtung es gehen soll. Und die müssen wir ihnen geben!

MB: Alle, die mit Jugendlichen arbeiten, sind es gewohnt, flexibel zu sein, aber diese Pandemie hat natürlich noch ein Schäuferl draufgelegt, was die Flexibilität anbelangt: einerseits war in den eigenen Reihen eine große Beweglichkeit gefordert, zum Beispiel im Bereich Digitalisierung. Auch viele der jungen Frauen haben sich digital einfach weiterbilden müssen. Da waren wir beeindruckt, wie schnell die das gekonnt und gemacht haben. Flexibilität war bei den Mitarbeiterinnen teilweise ein Vorteil, teilweise ein Nachteil: Eine Aufgabe war hier auch, von Arbeitgeberinnenseite drauf zu schauen, dass das nicht kippt, dass sie nicht durchgängig arbeiten. Und das war bei den Jugendlichen auch spürbar – Flexibilität ist so ein „Zauberwort“, aber Jugendliche brauchen auch Stabilität. Diese Balance zu finden war eine große Herausforderung, gerade für die, die wenig Ressourcen haben.

AKTIV: Wenn die gute Arbeitsmarkt-Fee vorbei geflogen käme und euch drei Wünsche für eure Jugendlichen erfüllen würde, was würdet ihr euch wünschen? Wie müsste ein Arbeitsmarkt aussehen, wo all die, die es momentan schwer haben, bessere Chancen hätten, leichter „reinkommen“ und ihren Platz finden würden?

MB: Ich hab so viele Wünsche… Ich glaube, die gute Arbeitsmarktfee sollte auf jeden Fall den Jugendlichen ermöglichen, auf sehr einfachem Weg sehr gut Deutsch zu lernen. So, dass sie zum Beispiel Anleitungen lesen können, sich gut zurechtfinden im Internet, dass sie in einer Ausbildung, einem SÖB, egal wo, wirklich gut mitkommen. Es wäre auch gut, wenn man sich Modelle überlegt, wie  das, was jetzt vielen Jugendlichen abhandengekommen ist – einerseits die Motivation, aber auch ein gewisses Defizit, was Berufsorientierung oder auch schulisches Wissen anbelangt – längerfristig gut aufgeholt werden kann. Es gibt schon einiges in dem Bereich, aber ich glaube, da können noch einige Lücken geschlossen werden. Und was auch gut wäre, ist Begleitung von Jugendlichen, wenn sie eine Lehre beginnen, die niedrigschwelliger ist als das Lehrlingscoaching. Und am besten wäre, man gibt einfach jedem jungen Menschen einen Laptop mit dazugehörigem Internetzugang in die Hand. Man stattet sie einfach aus – Basisvoraussetzungen schaffen! Und qualitativ hochwertige Kinderbetreuungsmöglichkeiten!

JE: Ich wünsche mir  mehr Firmen mit gesellschaftlicher Verantwortung. Es gibt einen Fachkräftemangel in vielen Berufen,  viele Firmen bemühen sich zu wenig, jungen Leuten mehr Chancen zu geben – wer nicht perfekt startet, ist zu schnell wieder draußen und hat keine Zeit, hineinzuwachsen.

MB: Wobei nicht nur eine finanzielle Förderung wichtig ist, um Jugendliche in die Betriebe zu begleiten – gerade bei den Klein- und Kleinstbetreiben. Wenn die Betriebe selbst auch  Begleitung hätten, damit sie Lehrlinge wirklich gut betreuen können, das wäre super.

AKTIV: Merkt man die aktuellen Änderungen am ersten Arbeitsmarkt für eure Teilnehmer*innen? Die Nachfrage ist gestiegen, bekommen dadurch mehr eine Chance?

JE: Also in der Gastronomie würden sie mir alle aus den Händen reißen, das geht momentan viel schneller. Und was mich sehr überrascht, sind die jungen Männer in der Security-Branche. Die bekommen ganz klar Chancen, die sie früher nicht bekommen hätten.

MB: Für manche der Jugendlichen, die zu uns kommen, hat es schon einen Effekt. Aber das, was gesucht wird, ist oft nicht das, was unsere jungen Frauen vom ersten Tag an mitbringen. Sie könnten es aber, wenn man dran bleibt und sie begleitet. Da werden die Leute ihre Idealvorstellungen auch runterschrauben müssen.

JE: Nicht nur die Firmen, teilweise auch die Gäste. Wenn ich ein Schnitzel um 9€ will, dann kann ich nicht glauben, dass der/die Kellner*in gut bezahlt wird. Da muss ein kompletter gesellschaftlicher Wandel passieren.

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